Ruanda unterzeichnet ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich über die Relokation von Asylsuchenden. Paul Rusesabagina erhält weiterhin keinen fairen Prozess. Ein Gesetzentwurf, der den Zugang zu Verhütungsmitteln für Personen über 15 Jahren vorsah, wird abgelehnt. Die Polizei greift in die Privatssphäre von Frauen ein und kontrolliert die Einhaltung einer Kleiderordnung. Die Gehälter von Lehrer*innen werden erhöht, während Zuschüsse für den Lebensunterhalt von Studierenden gleich bleiben. Blogger*innen und Journalist*innen werden weiterhin von den Behörden schikaniert, eingeschüchtert, verfolgt und unrechtmäßig inhaftiert. Über das Schicksal und den Verbleib von Innocent Bahati gibt es keine Auskunft. Bei einem bewaffneten Angriff auf einen Bus wurden zwei Menschen getötet. Die Prozesse gegen mutmaßliche Täter*innen des Völkermordes von 1994 wurden fortgesetzt.
Hintergründe
Eine UN-Expert*innengruppe erklärte, Ruanda habe die Rebell*innengruppe “Bewegung 23. März” unterstützt, als diese im Juni Angriffe auf die Streitkräfte der Vereinten Nationen und der Demokratischen Republik Kongo (DRK) verübt hatte. Der Bericht führte weiter aus, dass Ruanda seit November 2021 militärische Operationen in der Demokratischen Republik Kongo durchgeführt habe. Ruanda wies diese Anschuldigungen zurück.
Die Beziehungen zu Burundi haben sich weiter verbessert, verbunden mit verstärkten diplomatischen Bemühungen auf höchster Ebene. Nach drei Jahren der Schließung öffnete Ruanda im Januar seine Grenze zu Uganda.
Ruanda verfasste gemeinsam mit Peru ein globales Rahmenkonzept zur Reduzierung von Plastikmüll. Im September wurde auf der UN-Umweltversammlung eine Resolution zur Bekämpfung von Umweltverschmutzung durch Plastik angenommen.
Im Juni begann BioNTech in Ruanda mit dem Bau einer Fabrik zur Herstellung des Covid-19-mRNA-Impfstoffs als Teil des EU-Projekts zu Impfstoffgerechtigkeit.
Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen
Am 14. April unterzeichnete Ruanda eine Absichtserklärung mit dem Vereinigten Königreich. Ziel ist die Umsetzung eines Programms zur Relokation von Asylsuchenden aus dem Vereinigten Königreich nach Ruanda (siehe Jahresbericht zum Vereinigten Königreich: https://www.amnesty.org/en/location/europe-and-central-asia/united-kingdom/report-united-kingdom/). Im Juni wurde der erste für die Überführung von Asylsuchenden vorgesehene Flug durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestoppt. Der UNHCR, das Geflüchtetenhilfswerk der Vereinten Nationen, bewertete die Abkommen als rechtswidrig. Zuvor hatte der UNHCR bereits Bedenken hinsichtlich des ruandischen Asylverfahrens geäußert. Er verwies auf Willkür beim Zugang zu Asylverfahren, auf die Gefahr von Inhaftierung und Abschiebung, auf die Diskriminierung von LGBTIQ+-Asylbewerbern und auf unzureichende rechtliche Vertretung. Am 19. Dezember stufte der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs das Abkommen als grundsätzlich rechtmäßig ein.
Recht auf ein faires Verfahren
Im April wies das Berufungsgericht die Revision der Staatsanwaltschaft gegen die aufgrund von Terrorismusvorwürfen gegen Paul Rusesabagina verhängte 25-jährige Haftstrafe ab. Das Gericht ignorierte dabei zahlreiche Verstöße gegen sein Recht auf ein faires Verfahren: Die Verhaftung und Überführung von Dubai in die ruandische Hauptstadt Kigali unter ungesetzlichen Bedingungen, sein mehrtägiges erzwungenes Verschwinden und die anschließende Isolationshaft, sowie weitere Mängel vor und während des Prozesses. Bereits im März war die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei seiner Überstellung von Dubai nach Ruanda um eine Entführung gehandelt hatte und seine Inhaftierung nicht legal war. Aus diesen Gründen hätte sein Prozess gar nicht erst stattfinden dürfen.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Im Oktober lehnte das Parlament einen Gesetzentwurf ab, mit dem das Alter für den Zugang zu Verhütungsmitteln von 18 auf 15 Jahre gesenkt werden sollte. Unterdessen lehnten religiöse Autoritäten den freien Zugang zu Verhütungsmitteln weiterhin ab.
Frauen*rechte
Im August wurde Lilliane Mugabekazi verhaftet und wegen „Unsittlichkeit in der Öffentlichkeit“ angeklagt, weil sie bei einem Konzert in Kigali ein “schamloses Kleid” trug. Sie wurde nach 12 Tagen wieder aus der Haft entlassen. Ihre Festnahme löste eine öffentliche Debatte über die polizeiliche Überwachung von Kleidervorschriften für Frauen* und deren Recht auf Privatsphäre aus.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Im Januar protestierten Taximotorradfahrer*innen (Boda Boda) friedlich in Kigali gegen hohe Taxametergebühren und Versicherungsprämien.
Eine Umfrage des „Institute of Policy Analysis and Research – Rwanda“ belegte einen Anstieg der Lebenshaltungskosten in ruandischen Städten, von dem vor allem von Frauen* geführte Haushalte betroffen waren. Im April forderten Studierende die Erhöhung der staatlicher Studienhilfen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse wie Miete, Lebensmittel und Transport. Die Regierung erkannte die Forderungen an, hatte aber bis Ende des Jahres noch keine Maßnahmen ergriffen. Im August kündigte der Premierminister eine Erhöhung der Gehälter für Lehrkräfte um 88 % an.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Der Journalist Theoneste Nsengimana wurde nach seiner Verhaftung im Oktober 2021 weiterhin unrechtmäßig festgehalten. Ihm wurde vorgeworfen, “Gerüchte zu verbreiten, um Unruhe in der Bevölkerung zu stiften”.
Ruanda war 2022 Gastgeberland des Commonwealth-Gipfels (CHOGM). Im Juni verweigerte das Commonwealth-Sekretariat den Journalisten Benedict Moran und Anjan Sundaram die Akkreditierung. Sie hatten zuvor Kritik an Präsident Kagame und seiner Regierung veröffentlicht. Das Sekretariat bestritt jegliche Einflussnahme durch die ruandische Regierung. Stattdessen hieß es, die Akkreditierung sei verweigert worden, weil die beiden nicht für “anerkannte Medien” arbeiteten.
Im selben Monat verwehrten die ruandischen Behörden dem brasilianischen Journalisten Vinicius Assis die Akkreditierung. Er hielt sich bereits seit einem Monat in Kigali auf und hatte ordnungsgemäß die Akkreditierungsgebühr von 100 Dollar entrichtet.
Ebenfalls im Juni gab der Sportjournalist Prudence Nsengumukiza bekannt, dass er 2021 aus Angst vor Repressalien aus Ruanda geflohen war und in Belgien Asyl beantragt hatte. Vor seiner Abreise hatte er Missstände bei der Entlassung von Spielern aus dem Fußballclub der ruandischen Streitkräfte (APR F.C.) aufdecken wollen.
Die Behörden verfolgten weiterhin YouTube-Blogger*innen wie Yvonne Idamange. Sie wurde 2021 zu 15 Jahren Haft verurteilt, nachdem sie den Präsidenten als Diktator bezeichnet und ihn der Instrumentalisierung des Völkermords an den Tutsi bezichtigt hatte.
Im März bestätigte das Berufungsgericht die siebenjährige Haftstrafe gegen Dieudonné Niyonsenga, Inhaber des YouTube-Kanals Ishema TV. Er war 2020 verhaftet worden, als er über die Auswirkungen der Covid-19 Lockdown-Maßnahmen berichtete hatte. Er verbrachte 11 Monate in Untersuchungshaft, wurde dann aber im März 2021 vom Intermediärgericht in Gasabo freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte anschließend Berufung gegen diese Entscheidung ein, was im November 2021 zu einem Schuldspruch wegen “Fälschung, Identitätsbetrug, strafbarer Behinderung von Sicherheitsbeamten sowie Erniedrigung von Staatsbeamt*innen” durch das Oberste Gericht führte.
Aimable Kasira war ebenfalls im Zusammenhang mit seinen auf Youtube veröffentlichten Videos angeklagt worden. Der ehemalige Dozent gab bei seinem Gerichtstermin im Mai an, dass die Kommunikation zwischen ihm und seinen Anwält*innen staatlich überwacht worden sei und er Misshandlung in der Haft erfahren habe. Im November verwies das Intermediärgericht Nyarugenge seinen Fall an die Kammer für internationale und staatenübergreifende Verbrechen des Obersten Gerichtshofs.
Im Oktober sprach das Oberste Gericht in Kigali die Journalisten Damascene Mutuyimana, Shadrack Niyonsenga und Jean Baptiste Nshimiyimana vom YouTube-Sender Iwacu TV frei und ordnete ihre Haftentlassung an. Sie waren 2018 verhaftet und verurteilt worden, unter anderem wegen “Verbreitung von Falschinformationen mit der Absicht, eine international feindselige Stimmung gegen Ruanda zu erzeugen.
Gewaltsames Verschwindenlassen
Der Aufenthaltsort und das Schicksal des Dichters und Schriftstellers Innocent Bahati blieben unbekannt. Über den Stand der Ermittlungen zu seinem Verschwinden im Februar 2021 gab die Polizei keinerlei Informationen heraus. Im Februar 2022 forderten mehr als 100 Schriftsteller*innen den Präsidenten auf, sich für die Suche nach Innocent Bahati einzusetzen. Sie äußerten zudem die Befürchtung, dass Bahatis Verschwinden mit dessen regierungskritischen Äußerungen zusammenhängt.
Unrechtmäßige Angriffe und Tötungen
Die Regierung beschuldigte die Nationale Befreiungsfront (FLN), im Juni einen Busanschlag im Süden Ruandas verübt zu haben. Dabei waren zwei Menschen getötet worden.
Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung
Im Februar forderte der Internationale Restmechanismus für Strafgerichtshöfe (IRMCT) die Regierung Nigers auf, acht Ruander*innen, die im Zusammenhang mit dem Völkermord von 1994 vor Gericht standen, nach Tansania zu überstellen. Für vier von ihnen war ein Freispruch ergangen und vier hatten ihre Strafe bereits verbüßt. Doch Tansania lehnte das entsprechende Ersuchen ab, so dass die acht Personen bis zu ihrer Ausweisung aus Niger unter Hausarrest standen. Dieses Vorgehen verstieß gegen das zwischen Niger und dem IRMCT unterzeichnete Abkommen.
Im Mai ließ die niederländische Justiz einen ehemaligen Armeeoffizier verhaften und folgten dabei einem Auslieferungsgesuch aus Ruanda. Der Offizier wurde von einer regierungsnahen Zeitung in Ruanda als Major Pierre-Claver Karangwa identifiziert. Er wird der Beteiligung an Massakern verdächtigt, die während des Völkermords von 1994 an den Tutsi in Mugina verübt worden waren.
Ebenfalls im Mai wurde bestätigt, dass die vom IRMCT gesuchten flüchtigen Génocidaires Protais Mpiranya und Pheneas Munyarugarama im Jahr 2006 bzw. 2002 verstorben waren. Protais Mpiranya war Chef der Präsidentengarde zur Zeit des Genozids. Ihm wurde vorgeworfen, die Ermordung der damaligen Premierministerin Agathe Uwilingiyimana sowie von 10 belgischen Friedenssoldat*innen angeordnet zu haben. Pheneas Munyarugarama wurde wegen Massentötungen, Angriffen und sexualisierter Gewalt gegen Tutsi-Zivilist*innen angeklagt.
Im Juli verurteilte das Pariser Strafgericht Laurent Bucyibaruta wegen “Mittäterschaft am Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit” zu 20 Jahren Haft.
Im September begann vor dem IRMCT in Den Haag der Prozess gegen Félicien Kabuga, den mutmaßlichen Hauptfinanzier des Genozids.
Lest das ganze Regionalkapitel zu Afrika für ein Verständnis der größeren Zusammenhänge: https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/regionalkapitel-afrika-2022
Lest den Jahresbericht von Amnesty in ganzer Länge und informiert euch umfassend über die Menschenrechtslage weltweit: https://www.amnesty.org/en/documents/pol10/5670/2023/en/