Sexuelle Gewalt – eine ständige Gefahr für vertriebene Mädchen und Frauen
Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt gehören seit langem zu der Vielzahl an Menschenrechtsverletzungen, die von verschiedenen Akteuren in dem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Konflikt in Somalia verübt werden. Während ihres Aufenthalts in Somalia haben Amnesty-Researcherinnen mit vielen Mädchen und Frauen gesprochen, die insbesondere in den Flüchtlingslagern in ständiger Angst vor sexueller Gewalt und Vergewaltigung leben.
«Frauen und Kinder, die wegen eines bewaffneten Konflikts oder einer Dürre bereits gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, müssen jetzt noch mit der Angst vor sexuellen Übergriffen fertig werden», berichtet Donatella Rovera, Senior-Researcherin bei Amnesty International. «Viele der Frauen, die wir getroffen haben, leben in Behausungen, die aus Stofffetzen und Plastikplanen bestehen und kein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Wenn man den Zustand absoluter Gesetzlosigkeit im Land und die verheerende Sicherheitslage in den Flüchtlingslagern kennt, überrascht die Häufigkeit sexueller Übergriffe nicht.»
Nach Angaben der Vereinten Nationen kamen 2012 mindestens 1 700 Fälle von Vergewaltigungen in Flüchtlingslagern vor, wobei mindestens 70% von diesen von bewaffneten Männern in Regierungsuniformen begangen wurden. 30% der Überlebenden waren unter 18 Jahre alt. So wurde ein 14jähriges Mädchen, das sich von einem Epilepsieanfall erholte, im August in ihrer Unterkunft in einem Camp für Binnenflüchtlinge in Mogadischu von einem Mann vergewaltigt. Sie erzählte Amnesty International: «Ich bin aufgewacht, weil ein Mann mich ausgezogen hat. Ich wollte schreien, aber er hat meine Kehle zugedrückt, bis kein Ton mehr herauskam. Meine vierjährige Cousine ist aufgewacht. Er sagte ihr, sie solle ruhig sein, erledigte, was er angefangen hatte und rannte davon». Die Großmutter des Mädchens berichtete Amnesty International, dass die Nachbarn von den Schreien des Mädchens aufgeweckt worden waren und einen etwa 30jährigen Mann, der in einen traditionelles Tuch (kikoi) gekleidet war und einen Gehstock (bakor) trug, das Zelt verlassen und weglaufen sahen.
Eine Mutter von fünf Kindern wurde Anfang August fast Opfer einer Vergewaltigung. Sie konnte den Mann, der in ihre Hütte in einem Flüchtlingslager in Mogadischu eingedrungen war, zwar vertreiben, erlitt dabei jedoch Schusswunden an beiden Händen und eine Fehlgeburt. “Hawa”, ein 13jähriges Mädchen wurde entführt und neun Tage festgehalten. Sie erinnert sich nicht an viel, außer dass sie von ihren Entführern betäubt, misshandelt und mehrfach vergewaltigt wurde, bevor sie von der Polizei befreit wurde. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen die Polizei einschritt, indem sie das Mädchen befreite und einige der Täter festnahm.
Die meisten der Überlebenden einer Vergewaltigung, mit denen Amnesty International gesprochen hat, hatten die Angriffe nicht bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt sind in Somalia selten. Bei einer Anzeige erleben die Frauen nicht nur Angst und Scham, sondern oft auch Schmähung und Stigmatisierung. Dies wird verstärkt durch eine unsensible und aufdringliche Befragungspraxis der Polizei. Zudem gibt es kaum Polizistinnen, die mit den Fällen sexueller Gewalt betraut werden könnten.
«Die Unfähigkeit und der mangelnde Wille der somalischen Behörden, diese Verbrechen zu untersuchen und ein juristisches Verfahren gegen die Täter einzuleiten, lässt die Opfer von sexueller Gewalt noch isolierter zurück und schafft ein Klima der Straffreiheit: die Angreifer wissen, dass sie mit ihrer Tat davonkommen», sagt Donatella Rovera. «Es muss konkrete Massnahmen geben, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und um ein starkes Signal zu senden, dass sexuelle Gewalt nicht toleriert wird.»
Weitere Informationen enthält der Bericht „Somalia: Rape and sexual violence in Somalia – An ongoing epidemic“, AFR 52/009/2013 (30 August 2013)