EHRCO-Direktor Dan Yirga Haile über die jüngsten Verhaftungen und die Arbeit der NGO nach dem Friedensabkommen

9 März 2023

Interviewt von Ava Schuster (KoGruppe Äthiopien und Eritrea)

Hintergrund

Dan Yirga Haile ist geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats (EHRCO). Die nichtstaatliche, gemeinnützige und unparteiliche Organisation wurde 1991 gegründet, um die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Äthiopien zu fördern.

In den drei Jahrzehnten, in denen EHRCO eine unabhängige Stimme für die Menschenrechte in Äthiopien ist, ist die NGO ständig staatlichem Druck und systematischer Einschüchterung ausgesetzt. EHRCO-Mitarbeitende, darunter Dan Yirga selbst, wurden willkürlich verhaftet und einige von ihnen ins Exil gezwungen. Man brach wiederholt in ihre Büros ein und 2009 wurden sogar die Bankkonten der NGO gesperrt. Am 8. Mai 1997 ermordete die Bundespolizei Assefa Mary, Vorstandsmitglied von EHRCO, wofür bis heute niemand zur Rechenschaft gezogen wurde.

Für seine herausragenden Bemühungen um die Verteidigung der Menschenrechte in Äthiopien erhielt EHRCO 2022 den Menschenrechtspreis von Amnesty International (Deutschland).

Ava Schuster: Am 5. Januar 2023 wurden vier Ihrer Mitarbeitenden, Daniel Tesfaye, Bizuayehu Wendimu, Bereket Daniel und Nahom Hussien, südlich von Addis Abeba festgenommen, als sie Fälle von Zwangsräumungen untersuchten. Inzwischen wurden sie wieder freigelassen, jedoch hat man ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Was genau wird den EHRCO-Mitarbeitenden vorgeworfen?

Dan Yirga Haile: Insgesamt wurden drei Anklagen gegen sie erhoben. Die erste Anklage besteht darin, die Polizeiwache fotografiert zu haben, woraufhin wir entgegneten, dass das Fotografieren an sich keine Straftat darstelle. Bei der Polizeiwache handelt es sich um einen öffentlichen Raum und es wurden keine Schilder installiert, die es verbieten würden, die Wache zu fotografieren. Fotografie ist eine Methode zur Dokumentation und Beweissicherung und damit für unsere Arbeit unerlässlich.

Zweitens wurde meinen Mitarbeitenden vorgeworfen, keine Genehmigung für ihre Arbeit in dieser Region zu haben. Eine solche Genehmigung ist jedoch nicht erforderlich, da EHRCO eine registrierte Menschenrechtsorganisation ist und über eine Lizenz verfügt, um Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land zu untersuchen, zu dokumentieren und zu melden.

Der dritte Vorwurf bezieht sich auf die Aussage der EHRCO-Mitarbeitenden, dass sich die Abrisse der Häuser gezielt gegen bestimmte ethnische Gruppen richteten. Als EHRCO gehen wir aber folgendermaßen vor: Wir untersuchen die Gegend, in der Personen melden, dass ihre Häuser nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit angegriffen werden. Diese Aussage wird also nicht nur von EHRCO, sondern hauptsächlich von den meldenden Personen vorgebracht.

Für uns ist klar, dass diese Anklagen unbegründet, willkürlich und unrechtmäßig sind und lediglich ein Vorwand der Regierung darstellen, um unsere Menschenrechtsermittler*innen einzuschüchtern. Nachdem das Gericht unsere Verteidigung angehört hatte, ließ es meine Mitarbeitenden auf Kaution frei. Jedoch stimmt das Gericht weder unserer Verteidigung zu, noch hält es sich an die Grundsätze der Rechtmäßigkeit. Denn es gibt dem Druck nach, der durch die Unterstützung und Lobbyarbeit unserer Verbündeten für die Freilassung meiner Mitarbeiter*innen entstanden ist. Aufgebaut wurde dieser Druck durch Stellungnahmen von äthiopischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Amnesty International, FIDH, OMCT, KACE, der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen und anderen.

Ava Schuster: Warum werden diese Häuser zwangsgeräumt und in welchem Kontext sind diese Räumungen zu bewerten?

Dan Yirga Haile: Die Regierung behauptet, dass sie nur Häuser abreiße, die illegal erbaut wurden. Dies steht jedoch in direktem Widerspruch zu unseren Erkenntnissen, dass die Häuser auf der Grundlage bestimmter ethnischer Zugehörigkeiten ausgewählt wurden. Unsere Untersuchungen zeigen, dass diese Häuser nicht durch ein ordnungsgemäßes Verfahren ausgesucht und die Bewohner*innen weder konsultiert noch benachrichtigt wurden. So hatten sie keine Gelegenheit, die Abrisse anzufechten oder sich zu verteidigen. Einige der Häuser wurden mitten in der Nacht abgerissen, sodass die Bewohner*innen, von denen viele schon seit über 10 Jahren dort lebten, obdachlos wurden. Dazu gehören auch Kinder und schwangere Frauen, die nun verschiedenen Gefahren ausgesetzt sind, wie beispielsweise den Hyänen der Region.

Zugleich muss man bedenken, dass die Bewohner*innen öffentliche Dienstleistungen wie Wasser und Strom erhielten und Steuern an die örtlichen Behörden zahlten. Folglich profitiert die Regierung finanziell von der Anerkennung der Existenz dieser Personen. Wie um alles in der Welt kann man dann einfach ihre Lebensgrundlage zerstören? Dies ist eine völlige Missachtung des Rechts auf Wohnen als Menschenrecht und als ein Recht, das in der äthiopischen Verfassung sowie in der internationalen Menschenrechtskonvention, die Äthiopien unterzeichnet hat, garantiert ist.

Ava Schuster: Am 11. Februar 2023 wurde in Ihr Büro eingebrochen und ein Laptop gestohlen. Könnte dieser Einbruch mit den Verhaftungen zusammenhängen?

Dan Yirga Haile: Auf jeden Fall. Dieser Einbruch stellt keinen Einzelfall dar, sondern Teil eines umfassenderen, kontinuierlichen Musters systematischer Einschüchterung durch die Regierung. Die Tatsache, dass von allen Büros und Laptops nur der Laptop der Abteilung für die „Überwachung, Dokumentation und Berichterstattung von Menschenrechtsverletzungen“ gestohlen wurde, beweist, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Einbruch, sondern um einen organisierten Angriff auf uns und unsere Bemühungen zur Verteidigung der Menschenrechte handelt. Wir befürchten nun, dass diese sensiblen und vertraulichen Daten auf dem Laptop veröffentlicht oder anderweitig missbraucht werden könnten, um uns oder anderen zu schädigen.

Dieser Einbruch ist im Zusammenhang mit verschiedenen anderen Angriffen auf meine Kolleg*innen zu bewerten, die seit September 2022 andauern. So waren wir beispielsweise wegen Diskriminierung und Schikane in unserem Büro in Gambella gezwungen, unsere Kolleg*innen nach Addis Abeba umzusiedeln. Außerdem verhaftete die Regierung 22 Personen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, als diese bei EHRCO Menschenrechtsverletzungen meldeten.

Ava Schuster: Am 3. November 2022 wurde das Friedensabkommen zwischen Vertretern Tigrays und der äthiopischen Regierung in Kraft gesetzt. Dennoch hält die Gewalt in Nordäthiopien an, und seit November sind schätzungsweise weitere 4.000 Menschen getötet worden.

Während des Krieges waren Sie gezwungen, Ihr Büro in Tigray zu schließen. Hat das Friedensabkommen es ermöglicht, dieses Büro wieder zu eröffnen? Sind Sie in der Lage, Ihre Arbeit in Tigray ordnungsgemäß fortzusetzen?

Dan Yirga Haile: EHRCO verurteilt und lehnt jede Form von Krieg und Gewalt ab. Als Verteidiger*innen der Menschenrechte und des Friedens setzen wir uns lange und beständig für ein Friedensabkommen ein und freuen uns umso mehr, dass es verabschiedet wurde.

In Anbetracht der Tatsache, dass Tigray eine vom Krieg geprägte Region ist, in der schwerste Menschenrechtsverletzungen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen wurden, möchten wir so bald wie möglich unser Büro in Mekele (Tigray) wiedereröffnen. Tigrayer*innen sind, genau wie der Rest des Landes, unsere Brüder und Schwestern, so dass es in unserem ureigensten Interesse liegt, unsere Arbeit in dieser Region wieder aufzunehmen und zu priorisieren.

Im Moment ist es jedoch noch schwierig, unser Büro in Tigray wieder zu öffnen. Das liegt zum einen daran, dass die Infrastruktur völlig zerstört ist und zum anderen daran, dass die Region noch nicht wieder vollständig geöffnet worden ist. Selbst Regierungsstellen und öffentliche Dienste wie Banken, Telekommunikation und Luftverkehr sind noch nicht wieder vollkommen funktionsfähig. Wir hoffen, dass sich dies bald ändern wird und verfolgen die Situation mit Vorsicht. Die Regierung und die internationale Gemeinschaft müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die akute humanitäre Notlage zu lindern und einen raschen Wiederaufbau zu ermöglichen, ohne dabei zu vernachlässigen, dass Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ava Schuster: Während dieses Krieges sind schätzungsweise mehr als eine halbe Million Menschen getötet und weitere Millionen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt worden. Das Friedensabkommen geht jedoch nicht auf Fragen der strafrechtlichen Haftung ein. Im Januar veröffentlichte die äthiopische Regierung ihren Entwurf politischer Optionen für eine lokal verantwortete Übergangsjustiz, bei der die Regierung von der Internationalen Kommission der Menschenrechtsexperten für Äthiopien unterstützt werden soll. In diesem Dokument wird auch auf internationale Menschenrechtsverpflichtungen sowie auf afrikanische Standards der Übergangsjustiz verwiesen.

Für wie vielversprechend halten Sie diesen Ansatz? Welche Rolle sprechen Sie dabei der internationalen Gemeinschaft zu?

Dan Yirga Haile: EHRCO begrüßt, dass eine internationale Kommission eingesetzt wurde und auch die Initiative, einen Prozess der Übergangsjustiz einzuleiten. Die Bewältigung des Krieges stellt eine enorme Herausforderung für Äthiopien dar und ist dringend notwendig. Damit dieser Prozess erfolgreich und zugänglich wird, sollte zunächst die Möglichkeit für einen nationalen Dialog geschaffen werden. Ein solcher Dialog kann den Diskurs über die Feststellung der Fakten sowie die Entscheidung darüber erleichtern, ob Wahrheit, Versöhnung, Amnestie oder eine Strafverfolgung die beste Lösung für Äthiopien darstellen. Dies sollte weder eine Gelegenheit für die Regierung sein, ihre politische Agenda zu erfüllen, noch sollte dieses Gespräch nur zwischen den Eliten stattfinden. Stattdessen muss ein umfassender, transparenter und wahrheitsgetreuer Prozess der Übergangsjustiz eingeleitet werden.

In dieser Hinsicht sehen wir die Rolle der internationalen Gemeinschaft hauptsächlich in drei verschiedenen Bereichen. Der erste Beitrag sollte den Aufbau von Kapazitäten umfassen und deren Entwicklung fördern. Da die meisten Äthiopier*innen und Institutionen mit dem Konzept der Übergangsjustiz nicht vertraut sind, müssen die gesetzgebenden Institutionen, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und die Medien in diesem Bereich geschult werden.

Zweitens brauchen wir eine Plattform für den Erfahrungsaustausch. Der Austausch von Wissen und Erfahrungen mit Modellen der Übergangsjustiz in Südafrika und Ruanda sowie in Europa oder anderswo kann uns helfen, die beste Lösung für Äthiopien zu ermitteln. Eine solche Online-Plattform könnte beispielsweise von Amnesty International oder einer anderen internationalen Organisation organisiert werden, die über die nötige Expertise verfügt.

Schließlich besteht ein großer Bedarf an Lobbyarbeit. Die Regierung und ihre Interessensvertreter*innen müssen ermutigt und unter Druck gesetzt werden, damit dieser Prozess nicht zur Befriedigung politischer Interessen missbraucht wird. Stattdessen muss die Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine echte und nachhaltige Übergangsjustiz für ganz Äthiopien zu erreichen.

Foto: Maheder Haileselassie